Gläserner Fisch ohne Schädeldach

(26.04.2021) Senckenberg-Wissenschaftler Ralf Britz hat mit gemeinsam mit US-amerikanischen Forschern die evolutionäre Skelettentwicklung von Danionella dracula, einem winzigen, durchsichtigen Fisch untersucht.

Den Fischen fehlen mehrere Knochen – unter anderem das Schädeldach – und gleichzeitig besitzen sie hochspezialisierte Kommunikationsorgane. Aufgrund dieser Eigenschaften wird Danionella gerade zu einem wichtigen Modellorganismus in der neurophysiologischen Forschung.

Die Studie erscheint im Fachjournal „Developmental Dynamics“ und ziert dort das Titelbild.




Was würde sich für neurophysiologische Wirbeltierforschung besser eignen, als ein Organismus, dessen Kopf durchsichtig ist und so im lebenden Zustand den Blick auf sein Gehirn freigibt?

Genau diese Eigenschaften erfüllen die Arten der Gattung Danionella – nur zwischen 11 und 17 Millimeter große Fische aus der Familie der Karpfenähnlichen, von denen die untersuchte Art Danionella dracula erst 2009 entdeckt und beschrieben wurde.

„Der zwergenhafte Fisch ist durchsichtig, besitzt kein Schädeldach und erlaubt so die Untersuchung des Gehirns am lebenden Tier“, erklärt Dr. Ralf Britz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden und fährt fort: „Die Miniaturisierung von Danionella und das Fehlen vieler Knochen, einschließlich derer die das Gehirn normalerweise bedecken, sind eine Folge der sogenannten Heterochronie, ein vom deutschen Zoologen Ernst Haeckel geprägter Begriff.“

Wenn sich die zeitliche Abfolge von Entwicklungsschritten in der Evolution verändert, kann sich der Beginn oder das Ende eines Entwicklungsvorgangs verschieben oder sich die Geschwindigkeit eines solchen Vorgangs ändern.

Bei Danionella dracula führt diese Heterochronie unter anderem zu einer Beschleunigung der Geschlechtsreife, so dass die Fische – obwohl sie anatomisch Larven ähneln – mit etwa 10 Millimetern erwachsen sind und sich fortpflanzen können.


Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme des winzigen Fischs

Anhand einer Serie von 43 Stadien dieser Art hat Britz, gemeinsam mit Erstautor Kevin Conway und seinem Kollegen Kole Kubicek von der Texas A&M Universität, die Entwicklung der Tiere von frischgeschlüpften Larven von 3,4 Millimeter Länge bis hin zu ausgewachsenen Tieren mit Längen von 16 Millimetern untersucht.

„Wir konnten zeigen, dass den Fischen im Vergleich zu ihren nahen Verwandten, dem Zebrabärbling Danio rerio, mehr als 40 Knochen fehlen!“, erläutert Britz und ergänzt: „Im Gegensatz dazu sind andere Teile ihres Skelettes außergewöhnlich gut entwickelt. Besonders hervorzuheben ist hier der ‚Webersche Apparat’, der für die innerartliche Kommunikation der Tiere verantwortlich ist.“

Mit Hilfe von drei kleinen Knochen, die den Mittelohrknöchelchen des Menschen ähneln, erhöht der „Webersche Apparat“ das Hörvermögen der Fische und leitet Schallwellen von der Schwimmblase zu deren Innenohr weiter. Männliche Tiere von Danionella produzieren mit diesem Hörapparat aber auch verschiedene Laute mit Amplituden von 140 Dezibel und 60 bis 120 Hertz, um mit ihren Artgenossen zu kommunizieren.

„Gerade dieser Teil des Skelettes von Danionella, hat sich in der Entwicklung nicht nur normal, sondern sogar beschleunigt ausgebildet“, ergänzt der Dresdner Ichthyologe.

Das Tier vereint demnach sowohl die Eigenschaften eines larvalen Zebrafisches – kleines Gehirn, fehlende Knochen und Pigmentierung der Haut, als auch die neuronale Komplexität von erwachsenen Tieren, was Hören und innerartliche Kommunikation angeht.

„Dieser enorme Unterschied in der Entwicklungsgeschwindigkeit verschiedener Organsysteme innerhalb ein und desselben Organismus ist sehr ungewöhnlich für Wirbeltiere. Genau dieses anatomische Resultat – larval und dennoch hochspezialisiert – hat Danionella zum Modelltier für die Neurophysiologie gemacht“, fasst Britz zusammen.



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