Fontänen-Effekt – wie Marline und Sardinen sich gegenseitig überlisten
Im weiten, offenen Ozean, wo es keine Verstecke gibt, schließen sich Sardinen zum Schutz vor Raubfischen zusammen. Wenn sie sich nicht auf ihre Schnelligkeit verlassen können, um zu entkommen, müssen sie die Angreifer überlisten.
Diese suchen aber auch nach Möglichkeiten, Schwachstellen im Fluchtverhalten ihrer Beute zu finden. In einer Studie decken Forscher*innen des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ (SCIoI), der Humboldt Universität zu Berlin (HU), des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) sowie der Universität Cambridge den Zusammenhang zwischen der Entstehung kollektiver Fluchtmuster von Beutetieren und den Angriffsstrategien der Jagenden auf.
Wenn Gruppen von Beutetieren Raubtieren ausweichen, treten häufig die gleichen räumlichen Fluchtmuster auf. Werden beispielsweise Sardinen von Marlinen im offenen Ozean gejagt, so teilt sich der angegriffene Fischschwarm oft in zwei Untergruppen auf und bildet eine bogenförmige Fluchtbahn in beide Richtungen um den Angreifer herum, an dessen Schwanz sich die Gruppe wiedervereinigt. Da diese Bewegung der Wasserbewegung einer Fontäne ähnelt, wird sie auch so genannt.
Der Fontänen-Effekt ist eine kollektive Anti-Räuber-Reaktion, die auch bei anderen Tierarten auftritt, wenn Raubtiere versuchen, die Beutegruppen aufzubrechen und einzelne Tiere zu isolieren.
„Bisher ist erstaunlich wenig darüber bekannt, warum Beutetiere in Gruppen bestimmte soziale Fluchtregeln anwenden, um Raubtieren zu entkommen, welche kollektiven Fluchtmuster diese Regeln hervorbringen und ob diese Regeln auch bei unterschiedlichen Angriffsszenarien Bestand haben“, erläutert Professor Jens Krause den Hintergrund der Studie. Er ist Abteilungsleiter am IGB und einer der Leiter des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ an der HU Berlin.
Fontänen-Effekt maximiert Überlebenschancen der Beute
Das Forschungsteam untersuchte anhand von Drohnenaufnahmen das Räuber-Beute-Verhalten von gestreiften Marlinen (Kajikia audax) und Sardinenschwärmen (Sardinops sagax caerulea) im offenen Ozean nahe der Baja California, Mexico. Mit Hilfe detaillierter räumlicher Modellierungen konnten die Bewegungsabläufe unter bestimmten Szenarien vorhergesagt werden.
Der Fontänen-Effekt ermöglicht es nicht nur den langsameren Beutetieren, den schnellen, aber weniger wendigen Räubern auszuweichen, sondern auch den getrennten Untergruppen, sich nach dem Angriff wieder zusammenzuschließen, die Vorteile der Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe zu bewahren und für den nächsten Angriff gewappnet zu sein.
„Mit unseren Computersimulationen haben wir herausgefunden, dass es einen optimalen Fluchtwinkel von 30 Grad gibt, der auf kollektiver Ebene eben dieses Fontänen-Muster erzeugt und die individuellen Überlebenschancen unabhängig von der Angriffsrichtung maximiert", erklärt die Forscherin Dr. Palina Bartashevich, Hauptautorin der Studie.
Die Forscher*innen haben aber auch herausgefunden, dass dieses faszinierende Phänomen mit Abstrichen verbunden ist: Die individuelle Fluchtregel ist ein Kompromiss zwischen der Maximierung des Abstands zwischen dem einzelnen Beutetier und dem Räuber und der Minimierung der Zeit, die das Beutetier benötigt, um nach einem Angriff zur größeren Gruppe zurückzukehren.
„Dieses besondere Fluchtverhalten hat einen Preis: Die Gruppe braucht länger, um sich nach einem Angriff zu erholen und dem nächsten Angriff wieder kollektiv auszuweichen“, ergänzt die Wissenschaftlerin.
Auch die Marline können den Fontänen-Effekt nutzen
Dies deutet darauf hin, dass auch Raubtiere den Fontänen-Effekt nutzen können, obwohl es sich um einen Abwehrmechanismus gegen sie handelt. Raubtiere versuchen oft, die Schwarmstruktur der Beute aufzubrechen, da dies die Gruppengröße verringert, was den Fangerfolg erhöhen kann.
Die Videoaufnahmen zeigten, dass die Marline die Sardinenschwärme im Allgemeinen von der Seite und von hinten angriffen, wobei Angriffe von der Seite am häufigsten zum Fontänen-Effekt führten.
„Nicht-Fontänen“-Ausweichmanöver, bei denen der gesamte Schwarm dem Angriff in eine Richtung auswich, anstatt sich aufzuteilen und wieder zusammenzufinden, traten vor allem dann auf, wenn die Sardinen von hinten angegriffen wurden.
„Mit Hilfe unseres Räuber-Beute-Computermodells konnten wir vorhersagen, dass Raubtiere, wenn die Beute in der Gruppe den erwähnten optimalen Fluchtwinkel von 30 Grad nutzt, effektiver sind, wenn sie von der Seite des Schwarms angreifen“, sagt Bartashevich.
„Das liegt daran, dass der Angriff von der Seite den besten Kompromiss zwischen der Annäherung an die Beute und der Verlängerung der Erholungszeit der gejagten Fische darstellt und somit eine effiziente Strategie für einen Räuber ist, der beide Ziele gleichzeitig verfolgt."
Ein ständiges Kräftemessen zwischen Räuber und Beute
Die Forscher*innen konnten auch vorhersagen, dass Beutetiere effektiver fliehen können, wenn sie von hinten angegriffen werden, und haben ihre Modellvorhersagen mit empirischen Beobachtungen aus Drohnenaufnahmen verifiziert.
„Unsere Simulationen zeigen, dass es ein ständiges Kräftemessen zwischen Räubern und Beutetieren in den Strategien gibt, die sie einsetzen, um ihren eigenen Erfolg auf Kosten des anderen zu verbessern“, resümiert Palina Bartashevich.
Publikation
Bartashevich, P., Herbert-Read, J.E., Hansen, M.J. et al. Collective anti-predator escape manoeuvres through optimal attack and avoidance strategies . Commun Biol 7, 1586 (2024)
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