Bayreuther Biologen ergründen die Rolle der Mauthnerzellen in tierischen Gehirnen

(19.02.2020) Die Gehirne der meisten Fisch- und Amphibienarten enthalten ein Paar auffällig großer Nervenzellen. Es sind die größten Zellen, die in tierischen Gehirnen vorkommen. Sie werden als Mauthnerzellen bezeichnet und lösen blitzschnelle Fluchtbewegungen aus, wenn sich Fressfeinde nähern.

Biologen der Universität Bayreuth haben jetzt nachgewiesen, dass diese Zellen einzigartige überlebenswichtige Funktionen haben, deren Verlust nicht durch andere Nervenzellen ausgeglichen werden kann.

Zudem haben sie entdeckt, dass Mauthnerzellen für längere Zeit auch ohne ihren Zellkörper (Soma) funktionstüchtig bleiben. In der Fachzeitschrift PNAS stellen die Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse vor.

Die neuen Erkenntnisse widersprechen der weitverbreiteten Ansicht, lebensnotwendige Funktionen von Nervensystemen seien nicht von einzelnen, spezifisch dafür ausgerüsteten Zellen abhängig. „Seit einigen Jahren neigt man in der Biologie zu der Annahme, es gebe in tierischen Nervensystemen nur schwach ausgeprägte Hierarchien.


Alexander Hecker M.Sc. und Prof. Dr. Stefan Schuster, Lehrstuhl für Tierphysiologie an der Universität Bayreuth

Deshalb könne man grundsätzlich davon ausgehen, lebensnotwendige Funktionen würden bei einem Ausfall der primär dafür zuständigen Nervenzellen zumindest teilweise von anderen Bereichen des Nervensystems übernommen. Die Mauthnerzellen in Fischen und Amphibien sind jedoch Beispiele für eine starke hierarchische Abhängigkeit.

In unseren Experimenten konnten wir zeigen, dass eine Funktionsuntüchtigkeit dieser Zellen zu einem lebenslangen Ausfall der von ihnen gesteuerten Fluchtreflexe führt“, erklärt der Bayreuther Tierphysiologe Prof. Dr. Stefan Schuster, der die Untersuchungen geleitet hat.

In der Forschung wurde diese zentrale Funktion der Mauthnerzellen lange Zeit verkannt. Man glaubte, eine Mauthnerzelle sei ohne ihren Zellkörper, das Soma, zum Absterben verurteilt und daher funktionsunfähig.

Diese Annahme führte zu fehlerhaften Interpretationen von Experimenten mit Fischen, aus deren Mauthnerzellen die Zellkörper zuvor entfernt worden waren.

Die gleichwohl noch vorhandenen Fluchtreflexe erklärte man irrtümlicherweise damit, dass andere Nervenzellen imstande seien, den vermeintlichen Ausfall der Mauthnerzellen zu kompensieren.

Doch tatsächlich sind die Mauthnerzellen, wie die Bayreuther Forscher jetzt gezeigt haben, außerordentlich robust. Die für die Erregungsweiterleitung entscheidende Struktur einer solchen Zelle, das Axon, ist auch nach der Entfernung des Zellkörpers über längere Zeit imstande, Signale ins Nervensystem weiterzuleiten und Reflexbewegungen auszulösen.

Erst wenn auch eine wichtige Teilstruktur des Axons – das Axon Initial Segment (AIS) – fehlt, kommt es tatsächlich zu einem kompletten Funktionsausfall.

„Diese Beobachtung ist angesichts der zentralen Bedeutung der Mauthnerzellen eigentlich nicht verwunderlich. Gerade wegen ihrer einzigartigen Funktion hat die Evolution dafür gesorgt, dass sie auch nach relativ schweren Schädigungen des Zellkörpers wichtige Aufgaben erfüllen können“, sagt Alexander Hecker M.Sc., der Erstautor der neuen Studie.

Mit hochpräzisen Versuchen an Fischlarven, die deren Überleben sicherstellten, konnte er die ungewöhnliche Robustheit dieser Nervenzellen nachweisen.

„Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Mauthnerzellen auch in biomedizinischer Hinsicht stärkere Beachtung verdienen. Insbesondere sollten die Strukturen und Mechanismen, die wichtige Funktionen dieser Nervenzellen auch nach einer gravierenden Beschädigung ihres Zellkörpers aufrechterhalten, möglichst detailgenau aufgeklärt werden.

Daraus ergeben sich möglicherweise wertvolle Ansatzpunkte für Untersuchungen, die sich mit dem Erhalt und der Regeneration beschädigter Nervenzellen befassen“, ergänzt Schuster.

Die Forschungsarbeiten wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen eines Reinhart Koselleck-Projekts gefördert.

Publikation

Alexander Hecker, Wolfram Schulze, Jakob Oster, David O. Richter, and Stefan Schuster: Removing a single neuron in a vertebrate brain forever abolishes an essential behavior. PNAS – Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (2020).


Weitere Meldungen

Weißbüschelaffen am Deutschen Primatenzentrum; Bildquelle: Manfred Eberle/DPZ

Eine gentechnisch unterstützte Reise ins Primatengehirn

Die Leibniz-Gemeinschaft fördert das Projekt PRIMADIS mit einer Million Euro
Weiterlesen

Elektronenmikroskopische Darstellung einer erregenden Synapse und Schema des Proteinnetzwerks zur Verankerung der AMPA-Rezeptoren in der Zellmembran.; Bildquelle: Bernd Fakler/Universität Freiburg

Noelin-Proteine zentral für Lernfähigkeit von Säugetiergehirnen

Deutsch-amerikanisches Forschungsteam um Freiburger Physiologen zeigt die fundamentale Bedeutung der Noelin-Proteine für die Plastizität von Nervenzellen auf
Weiterlesen

Bienen; Bildquelle: Christian Verhoeven (www.verhoevenfoto.de)

Fluoreszierendes Protein bringt Licht ins Bienengehirn

Ein internationales Team von Bienenforschenden unter Beteiligung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) hat einen Calcium-Sensor in eine Biene integriert
Weiterlesen

Tauben träumen im Schlaf; Bildquelle: RUB, Marquard

Hirnforschung: Träumen Tauben vom Fliegen?

Träumen galt lange Zeit als etwas, das den Schlaf des Menschen auszeichnet. Neue Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass Tauben im Schlaf möglicherweise Flugszenen erleben
Weiterlesen

Dr. Michael Heide; Bildquelle: Sascha Bubner/Deutsches Primatenzentrum GmbH

Das Gen, dem wir unser großes Gehirn verdanken

Hirnorganoide liefern Einblicke in die Evolution des menschlichen Gehirns
Weiterlesen

Ruhr-Universität Bochum

Schlaue Vögel denken smart und sparsam

Die Gehirnzellen von Vögeln benötigen nur etwa ein Drittel der Energie, die Säugetiere aufwenden müssen, um ihr Gehirn zu versorgen
Weiterlesen

Deutsche Wildtier Stiftung

Arbeitsgedächtnis von Vogel- und Affengehirn

Das Arbeitsgedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen für kurze Zeit in einem abrufbaren Zustand zu halten und zu verarbeiten
Weiterlesen

Ein Schnitt durch den Haiwirbel zeigt Wachstumsringe, ähnlich denen in Baumstämmen.; Bildquelle: Daniel Erny/Universitätsklinikum Freiburg

Gehirn des weltweit ältesten Wirbeltieres untersucht

Detaillierte Untersuchungen des ältesten Gehirns können neue Erkenntnisse für altersbedingte Krankheiten des Gehirns ermöglichen. Studie im Fachmagazin Acta Neuropathologica erschienen
Weiterlesen


Wissenschaft


Universitäten


Neuerscheinungen