Bilaterale, rostrale pathologische Fraktur der Mandibula als Folge einer Periodontalerkrankung

(20.12.2013) Ein 8 Jahre alter Spitz mit einem Gewicht von 4,3 kg wurde in einem Zustand der Erschöpfung und des Schockes, als Folge einer bilateralen Mandibulafraktur, in der Praxis vorgestellt.


Abb.1
Die rostrale Lokalisation der Fraktur war bei der klinischen Erstbeurteilung sehr hilfreich. Nachdem der Schockpatient zunächst klinisch stabilisiert, rehydriert (Infusion: Ringer Lactat 20 ml/kg/h), prämediziert und die Schmerzen unter Kontrolle waren (Butorphanol 0,2mg/kg), konnten Röntgenbilder ohne Sedierung durchgeführt werden.

Eine um 30 Grad gekippte laterolaterale  und eine dorsoventrale Aufnahme des Kopfes wurde angefertigt, um das Ausmaß und die präzise Lokalisation der Fraktur beurteilen zu können. In Abb.1, Abb.2 und Abb.3 ist die schwerwiegende Fraktur sichtbar.

Es handelt sich hierbei um eine komplette bilaterale rostrale Fraktur, als Folge von sehr tiefen periodontalen Taschen, die sich über alle Zähne erstrecken, dass in der in der schrägen laterolateralen Aufnahme zu sehen ist.

Das rostrale Fragment ist leicht zu erkennen, es ist entstanden nach dem Verlust beider Canini, da nur eine sehr dünne Schicht der Kortikalis im ventralen Teil der Mandibula vorhanden war ( siehe rote Pfeile in Abb.2 ).


Abb.2

Wieso ist die Fraktur passiert, durch den geringsten mechanischen Stress (siehe blaue Pfeil in Abb.2), ev. spontan während der Okklusion oder während des Kauens von hartem Futter. Dies kann besser verstanden werden, nachdem wir einige allgemeine Fragen  zu  dieser multifaktoriellen Erkrankung – der Periodontalerkrankung, besprochen haben.

 Diese Erkrankung, die die meisten von uns bereits kennen, wird verursacht durch Akkumulation von bakterieller Plaque an der Zahnoberfläche und am  Zahnhalteapparat. Die Periodontalerkrankung inkludiert Gingivitis ( Schwellung des Zahnfleischgewebes ) und die fortgeschrittenere Form, die den Zahnhalteapparat attackiert und den Verlust des Alveolarknochens verursacht, wie in unserem Fall. 


Abb.3

Periodontalerkrankungen sind die häufigsten Erkrankungen der Mundhöhle bei Katzen und Hunden. Mehr als 50% aller Haustiere haben Periodontalerkrankungen, nach dem Erreichen des 5. Lebensjahres erkranken 80% von ihnen daran. Bei Hunden kann man sagen: Je kleiner die Hunderasse, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines frühen Beginnes und einer aggressiveren Form der Periodontitis.

Natürlich spielen andere Faktoren wie Schädelform, Speichelzusammensetzung, Körpergewicht, Ernährung und Kauverhalten ebenfalls eine Rolle für den Zeitpunkt des Beginnes der Periodontitis.

Mit dem Fortschreiten der bakteriellen Plaque unter die Zahnfleischfurche, beginnen sich die Spirochaeten und mobilen Anaerobier zu vermehren und die epitheliale Anheftung des Zahnfleisches zu unterbrechen. Es gibt 2 Arten von Plaque: supra- und subgingival ( über und unter dem Zahnfleischrand ).

Jedoch hat die Plaque eine komplexe Beschaffenheit, sie besteht aus Bakterienzellen eingebettet in eine Glykoproteinmatrix, extrazelluläre Polysaccharide gemischt mit Epithelzellen, Kohlenhydrate, Makrophagen, Fetten, anorganischen Bestandteilen und Wasser.

Die Bakterienpopulation der Plaque erstreckt sich von Gram+ zu Gram- auf der äußeren, oberflächlichen Schicht der Zahnkrone, die von Plaque befallen ist. Die tiefere, subgingivale Plaque besteht meistens aus Kokken ( Gram+ und Gram- ). Einige der wichtigsten Bakterien die beim Hund zur Bildung von Plaque beitragen sind Aerobier wie z.B: Prevotella sp., Porphyromonas sp., Bacterioides sp. und Fusobacterium, bei Katzen haben wir ergänzend: Peptostreptococcus sp..

Zahnstein über und unter dem Zahnfleisch bildet sich durch Mineralisation des bakteriellen Plaques, da der Speichel Mineralstoffe enthält. Der Hauptbestandteil von Zahnstein ist Kalziumkarbonat gemischt mit kleinen Mengen von Kalziumphosphat Apatit. Zahnstein verursacht eine Schwellung des Zahnfleisches durch seine raue Oberfläche, dadurch schafft er ideale Bedingungen für die Anheftung neuer Schichten von Plaque.

Der subgingivale Zahnstein hat eine dunklere Farbe ( dunkelbraun bis schwarz ) verglichen mit dem supragingivalen, aufgrund von Eisenpigmenten, abgebautem Hämoglobin und der subgingivalen Bakterienflora. Die Anwesenheit von Gramnegativen Mikroorganismen induziert und verschlimmert die Zerstörung der Zellen aufgrund ihrer sezernierten Endotoxine, die das subgingivale Gewebe überziehen.

Aufgrund einer Periodontitis wird eine pathologische Veränderung im sulculären und oralen Epithel initiiert. Zuerst schwillt das Zahnfleisch an, es ist ödematös und mürbe, der Prozess geht rund um den Zahn. Die Zahnfleischtaschen werden tiefer aufgrund der Erweiterung des gingivalen Raumes ( falsche Taschen ) und später wird das sulculäre Epithel durchgängiger und ermöglicht den Bakterien und ihren metabolischen Enzymen die Taschen immer mehr auszuweiten. Unbehandelt entwickelt sich aus der Gingivitis eine Periodontitis.

Periodontalerkrankungen entstehen als Konsequenz durch den Verlust und die permanente Zerstörung des anheftenden Gewebes, sowie der Alveolarknochen. Eine tiefe Tasche kombiniert mit infraalveolären Taschen, horizontale und vertikale Knochenresorptionen führen zur Zahnlockerung und  Verlust der Zähne oder sogar zur pathologischen Fraktur, wie in unserem Fall.

Wenn Periodontalerkrankungen in der Anfangsphase durch supragingivales Scaling mit einem Ultraschallscaler und subgingivaler Kürettage behandelt werden, kann der Verlauf der Krankheit durch systemischen Antibiotika wie zB.: Clindamycin, Suanatem oder Enrofloxacin, lokalen Antibiotika (eingebettet in inerten oder resorbierbaren Materialien), abgebremst werden.

Die Verwendung von Perioceutics wie PerioFilm® ( hergestellt durch die Firma Italmed, vertrieben durch die Firma CelsusMed Austria) kann bei der Reduktion der Taschentiefe durch das langsame  Freigeben von Antibiotikum unter die Zahnfleischlinie, hilfreich sein.

Nun kommen wir zurück zu unserem Fall:

Nach der vorher genannten Prämedikation des Hundes, rasierten wir die Unterlippe und desinfizierten die Haut, als Vorbereitung auf die Operation.


Abb.4

Wir begannen mit einer gründlichen Eliminierung der infektiösen Quellen, wie den lockeren Zähnen mit einer tiefen periodontalen Tasche an der Maxilla genauso wie an der Mandibula. Alle vorhandenen Zähne konnten ohne Schwierigkeit extrahiert werden, da sie bereits kompromittiert waren, Abb.4 und Abb.5. Die einzigen Zähne, die nützlich waren, wurden vor Ort auf der Seite von der linken Mandibula belassen, nämlich P2, P3 und M1 (306, 307, 308 nach der Triadan Nomenklatur).


Abb.5

Außerdem sind diese Zähne in der Umgebung der Frakturseite und können eine zusätzliche Verankerung und Stabilität der Mandibula bieten. Diese Zähne wurden mit einem Ultraschallscaler gereinigt und poliert, Abb.6.

Wir entfernten das frakturierte und separierte Mandibulafragment, das mittlerweile durch den Prozess der fortgeschrittenen periodontalen Resorption nekrotisiert war und damit für die Reparatur der Fraktur nicht mehr brauchbar war.


Abb.6

Dann fuhren wir mit einer gründlichen Wundtoilette fort und reinigten die Unterlippe von all den fibrösen und knöchernen Anhängen.

Ebenso regulierten wir die rostralen Ränder der 2 Mandibulahälften bis zur gesunden und blutenden Knochenoberfläche, bis sich eine bilaterale Symmetrie erreicht wurde, Abb.7.

Der Bereich der Symphyse wurde mit Hilfe eines Skalpells und einer beidseitig aktiven Diamantscheibe präpariert, so dass die 2 Hälften der Mandibula in der Mittellinie in einer Knochen zu Knochen Verbindung zusammentreffen können, um eine neue symphysial Linie zu formen.


Abb.7
Die Fixation erfolgte dann unter der Verwendung einer Doppelcerclage mit chirurgischem Draht der Stärke 0,4.

Vor der Anwendung des Cerclagendrahtes präparierten wir  ein Loch im Alveolarknochen auf der linken Mandibulaseite im Bereich der Furkation des P3, mit größter Vorsicht den Zahn nicht zu verletzen.

Gleichzeitig bohrten wir ein Loch in den Alveolarknochen auf der rechten Mandibulaseite in derselben Höhe wie links, da hier keine Zähne mehr anwesend waren. 

Wir achteten darauf, den Mandibularkanal nicht zu penetrieren, wo der N. alveolaris inferior und die dazugehörigen Blutgefäße liegen, da diese dann eventuell  verletzt werden könnten.

Die Löcher wurden mit einem runden Stahlbohrer mit demselben Durchmesser wie der Cerclagendraht (0,4) und einer Hochgeschwindigkeitsturbine mit entsprechender Wasserkühlung, präpariert.

Die erste Cerclage wurde angelegt unter Verwendung unserer vorgebohrten Löcher und dann gestrafft mit ziehenden und drehenden Bewegungen. Ein zweiter umlaufender Draht (ebenfalls 0,4 mm) wurde nahe dem Ersten rund um den rostralen Teil der Mandibula angelegt, um die Fraktur noch zusätzlich zu stabilisieren.


Abb.8

Nach der Fertigstellung der Stabilisation mußten wir uns um die Unterlippe kümmern, die nicht nur ausgerissen, sondern auch viel zu groß für die neue reduzierte Größe des Unterkiefers war.

Daraufhin wurde eine plastische Unterlippenoperation durchgeführt mit einem V-förmigen Schnitt, etwas links zu der Mittellinie der Unterlippe ( um die Stabilisierung der Mittellinienfraktur nicht zu irritieren ) ausgeführt durch die Entfernung eines ca. 1 cm langen Gewebestückes ( gemessen an der Basis des Dreiecks ).

Der Lippendefekt wurde dann in 2 Schichten mit einzelnen Knopfnähten verschlossen, zuerst die labiale Schleimhautseite und dann die Hautschicht unter der Verwendung des Nahtmateriales: PGC der Größe 4/0  ( monofilament, mittellange Absorption, mit einer am Außenbogen schneidenden Nadel ), Abb.8.


Abb.9

Es können folgende Komplikationen auftreten: Das Nichtzusammenwachsen der Mandibula und Arthrosen des temporomandibulären Gelenkes. Diese Komplikation entsteht hauptsächlich aufgrund einer Veränderung des Winkels bei den Kondylen der Mandibel (ein spitzerer Winkel, da die 2 Hälften postoperativ enger zueinander stehen). 

Desweitere kann eine Malokklusion entstehen, aber da der Hund keine Zähne mehr hat ( außer den 3 Mahlzähnen in der linken  Hälfte der Mandibula ), war dies nicht der Fall.


Abb.10

Die unmittelbare postoperative Behandlung war systemische Antibiose mit Clindamycin 10 mg/kg 2 x tägl. für 10 Tage und Meloxicam orale Lösung 1 x tägl. nach Körpergewicht (4,3 kg) für mehrere Tage.

Zwei Wochen postoperativ machten wir eine Kontrolle und glücklicherweise war die Heilung sehr gut und der Kauprozess ungestört, Abb.9 und Abb.10. So kann unser Spitz eine bessere Lebensqualität genießen, obwohl er einen kürzeren Unterkiefer hat. 

Camil Stoian, Dr. med. dent., Dr. med. vet., PhD
Diplomate of the European Veterinary Dental College
http://www.tierzahnarzt.at
T: 0043 664 789 5433



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