Räumliche Modellierungen zeigen im Detail, wie Wölfe Deutschland wiederbesiedelten und wo sie in Zukunft leben könnten

(16.11.2023) Die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland, die vor rund 23 Jahren in der Lausitz begann, ist ein Prozess von enormer ökologischer und gesellschaftlicher Tragweite.


Wolf (Canis lupus) in präferiertem Habitat

Daher sind ein genaues Verständnis der Wiederbesiedelung des ursprünglichen Lebensraums durch die Raubtiere sowie verlässliche Vorhersagen zu ihrer künftigen potenziellen Verbreitung wertvoll. Ein detaillierter Vergleich unterschiedlicher räumlicher Modellierungsverfahren auf der Basis von Verbreitungsdaten aus 20 Jahren zeigt nun, wie vielschichtig der Prozess ist.

Von frühen bis zu späten Phasen änderten sich die Habitatpräferenzen des Wolfs von hoher Selektivität hin zu vergleichsweise geringeren Ansprüchen.

Ein detaillierter Vergleich unterschiedlicher räumlicher Modellierungsverfahren auf der Basis von Verbreitungsdaten aus 20 Jahren zeigt nun, wie vielschichtig der Prozess der Wiederbesiedelung ist. 

Von frühen bis zu späten Phasen des Prozesses änderten sich die Habitatpräferenzen des Wolfs von hoher Selektivität hin zu vergleichsweise geringeren Ansprüchen, zeigte jetzt ein Team unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in der Fachzeitschrift „Diversity and Distributions“. 

Das Team verfeinerte damit die Modellierungsergebnisse aus dem Jahr 2020, die das Bundesamt für Naturschutz veröffentlichte.

Wölfe bevorzugen Lebensräume mit vielen Möglichkeiten, Deckung zu finden, und die in erheblicher Entfernung vom Menschen, seinen Siedlungen und Straßen liegen. Diese Präferenzen bestätigten sich auch bei der Rückkehr nach Deutschland im 21. Jahrhundert und der anschließenden dauerhaften Wiederbesiedelung jenes Lebensraums, in dem sie vor etwa 200 Jahren ausgerottet wurden. 

Kenntnisse über die Habitatansprüche und -vorlieben des Raubtieres ermöglichen zudem verlässliche Prognosen, wo in der Zukunft Wölfe in Deutschland dauerhaft leben könnten. 

Im Jahr 2020 veröffentlichte das Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlichen Team der Abteilung für Ökologische Dynamik des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) eine Studie zur Modellierung geeigneter Lebensräume und berechnete, dass potenziell in den Naturräumen Deutschlands Platz für rund 700 bis 1.400 Wolfsterritorien ist. 

Nun haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genauer hingeschaut und eine Vielzahl räumlich-zeitlicher Modellierungsverfahren darauf getestet, wie gut sie die tatsächliche Dynamik der Wiederbesiedelung in ihren verschiedenen Phasen wiedergeben.

„Es besteht Grund zur Annahme, dass die Wiederbesiedelung Deutschlands durch den Wolf kein sogenannter stationärer Prozess ist, sondern von sich verändernden Rahmenbedingungen geprägt ist“, erklärt Prof. Stephanie Kramer-Schadt, Leiterin der Abteilung für Ökologische Dynamik am Leibniz-IZW. „Stationäre Prozesse würden in diesem Fall bedeuten, dass die Wölfe in den Regionen, in die sie neu vordringen dieselben oder sehr ähnliche Umweltbedingungen vorfinden – und dass sie in allen Phasen des Wiederbesiedelungsprozesses in gleicher Weise auf die Umweltbedingungen reagieren.“

Beides stand im Falle der Wiederbesiedelung Deutschlands durch den Wolf in Zweifel: Zum einen unterscheiden sich Ostdeutschland und bspw. das Rhein-Ruhr-Gebiet erheblich in Bezug auf die Dichte menschlicher Infrastrukturen, zum zeigen Wölfe womöglich unterschiedliche oder unterschiedlich stark ausgeprägte Habitatpräferenzen, je nachdem ob es sich um eine frühe, erste Phase oder eine späte Sättigungsphase der Wiederbesiedelung handelt.

„Diese Fragen sind für die Güte der Prognose hochrelevant“, sagt Erstautorin Dr. Aimara Planillo aus Kramer-Schadts Abteilung. „Wenn Modelle mit den Umweltbedingungen einer bestimmten Region entwickelt werden, könnten sie die Eignung einer stark abweichenden anderen Region falsch einschätzen.

Zugleich können Modelle, die mit Daten aus frühen Wiederbesiedelungsphasen erstellt wurden, die Eignung von Habitaten für späte Phasen unterschätzen – weil die Wölfe in frühen Phasen noch die freie Wahl haben, sich die Sahnestücke der verfügbaren Lebensräume auszusuchen und damit erheblich wählerischer erscheinen als dies für die späten Phasen gilt. Ebenso ist es umgekehrt: Die Daten aus späten Wiederbesiedelungsphasen zeigen Wölfe als wesentlich anspruchsloser, weshalb die Selektivität ihrer Habitatnutzung in neu besiedelten Gebieten wahrscheinlich unterschätzt würde.“

Das Team um Planillo und Kramer-Schadt, dem auch Forschende vom LUPUS Institut für Wolfsmonitoring und -forschung in Deutschland, der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde, der Technischen Universitäten in Dresden und Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, des Bundesamts für Naturschutz sowie der Veterinärmedizinischen Universität Wien angehörten, testete eine Vielzahl moderner Modellierungsverfahren und -algorithmen mit verschiedenen Daten aus mehr als 20 Jahren Wolfsmonitoring in Deutschland, um ihre Eignung zur Abbildung der Dynamik des Prozesses festzustellen.

Sie entwickelten die Modelle dabei mit einer Auswahl der Radiotelemetrie- und Beobachtungsdaten und prüften, wie gut diese die darauffolgenden Phasen des Besiedelungsprozesses vorhersagen konnten. „Wir sehen uns in zweierlei Hinsicht bestätigt“, schließen Planillo und Kramer-Schadt.

„Zum einen erweisen sich unsere Hochrechnungen von 2020 im Wesentlichen als zutreffend. Zum anderen zeigen die teilweise deutlichen Unterschiede der Modellprognosen verschiedener räumlicher Phasen des Prozesses, dass dieser tatsächlich nicht stationär verläuft“, so die Autorinnen und Autoren.

„Wölfe sichern sich bei der Wiederbesiedlung eines Gebietes immer die besten Habitate zuerst, die Sahnestücke sozusagen. Es scheint also so, als seien sie sehr wählerisch, was die Auswahl geeigneter Umweltbedingungen betrifft. Benachbarte B-Lagen werden in späteren Phasen aber ebenso zuverlässig besiedelt, in vielen Regionen Ostdeutschlands konnten wir das nachweisen.“ 

Das Team konnte damit ihre Vorhersagen validieren und verfeinern. Räumlich-zeitliche Hochrechnungen von Lebensräumen expandierender Arten seien mit großer Umsicht durchzuführen, schließen sie.

Die wichtigsten Faktoren für geeignete Wolfslebensräume sind eine hohe Nähe zu Wäldern oder anderen Gebieten, die ausreichend Deckung bieten, sowie eine große Entfernung zu Straßen. Im Norden und Nordosten sowie im Süden Deutschlands befinden sich daher die besten Lebensräume für Wölfe, im Westen sind tendenziell Habitate von geringerer Qualität zu finden.

Im Süden Bayerns und in einigen Waldgebieten Mitteldeutschlands (im Harz sowie in Spessart, Odenwald und Rhön) waren zum Zeitpunkt der Analysen noch größere Lebensräume von hoher Qualität von Wölfen unbesetzt. Es wurde als wahrscheinlich angesehen, dass dort die ersten Wölfe zunächst in Ideallagen ansässig würden – was nach aktueller Datenlage mittlerweile passiert ist – und erst später über die Zeit auch Lagen mittlerer Güte besiedeln.

„Mit Blick auf unsere neuesten Modellierungen und ähnlichen Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, wo bei hoher Wolfsdichte auch qualitativ minderwertigere Lebensräume dauerhaft genutzt werden, sind bisherige Habitatmodellierungen wohl in der Tendenz zu konservativ“, sagt Kramer-Schadt. „Sie stellen aber eine gute räumliche Prognose für die Erstbesiedelung neuer Lebensräume dar.“

Publikation

Planillo A, Wenzler-Meya M, Reinhardt I, Kluth G, Michler F, Stier N, Louvrier J, Steyer K, Gillich B, Rieger S, Knauer F, Kuemmerle T, Kramer-Schadt S (2023): Understanding habitat selection of range-expanding populations of large carnivores: 20 years of grey wolves (Canis lupus) recolonizing Germany. Diversity and Distribution 00, 1–16.



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