BioRescue schickt das Nördliche Breitmaulnashorn Najin in den Ruhestand

(21.10.2021) Bei der Mission, das Nördliche Breitmaulnashorn durch fortschrittliche Technologien der assistierten Reproduktion vor dem Aussterben zu bewahren, legen die Wissenschaftler:innen und Naturschützer:innen des BioRescue-Konsortiums höchsten Wert darauf, das Leben und Wohlergehen der einzelnen Tiere zu respektieren.

Nach einer speziellen, umfassenden ethischen Risikobewertung hat das Team nun beschlossen, das ältere der beiden verbleibenden Weibchen – die 32-jährige Najin –, als Spenderin von Eizellen (Oozyten) in den Ruhestand zu schicken.

Damit steht dem ehrgeizigen Programm noch ein Weibchen zur Verfügung, welches Eizellen liefern kann: Najins Tochter Fatu. Unter Abwägung der Risiken und Chancen für die Individuen und die gesamte Art war diese Entscheidung alternativlos.


Najin in Kenia

Der Bedarf an stammzellassoziierten Techniken, die auch Bestandteil der BioRescue-Mission sind, und an langfristig angelegten Biobanken wird durch diese Entscheidung weiter erhöht.

Najin wird als Repräsentantin ihrer Art und durch die Weitergabe von sozialem Wissen an zukünftige Nachkommen ein wichtiger Teil der Mission bleiben.

Najin wurde 1989 im Safaripark Dvůr Králové (Tschechische Republik) geboren und 2009 zusammen mit drei weiteren Nördlichen Breitmaulnashörnern für ein natürliches Zuchtprogramm in das Reservat „Ol Pejeta Conservancy“ (Kenia) gebracht.

Fünf Jahre später stellten Wissenschaftler:innen fest, dass die letzte Chance für das Überleben von Najin und ihrer Art in modernen Techniken der assistierten Reproduktion liegt, wie sie vom BMBF teilgefördertem BioResuce-Konsortium durchgeführt werden.

Bei diesem Ansatz werden weiblichen Breitmaulnashörnern Eizellen entnommen. Dafür erfolgt eine Hormonstimulation, eine Vollnarkose und eine transrektale, ultraschallgesteuerte Eizellentnahme.

„Bei Nashörnern ist dieses Verfahren absolut neu, und obwohl es von den weltweit führenden Wissenschaftler:innen und Tierärzt:innen des BioRescue-Teams auf höchst professionelle und sichere Weise durchgeführt wird, ist es mit Risiken für die Tiere verbunden", sagt Jan Stejskal, Direktor für internationale Projekte im Safaripark Dvůr Králové.

„Die Eizellenentnahme bei Najin hat nur wenige Eizellen geliefert, von denen keine erfolgreich befruchtet werden konnte, um einen Embryo zu produzieren. In Anbetracht dieses Ergebnisses und der möglichen Risiken ist es die verantwortungsvollste Entscheidung, keine weiteren Eingriffe an Najin vorzunehmen und sie nicht mehr als Eizellspenderin zu verwenden. Sie wird jedoch weiterhin Teil des Programms sein, indem wir beispielsweise Gewebeproben von ihr mit minimal-invasivem Eingriff entnehmen und für Stammzelluntersuchungen verwenden.”

Die Entscheidung, die Eizellenentnahme bei Najin einzustellen, wurde unter der Leitung des Ethiklabors für Tiermedizin, Naturschutz und Tierschutz der Universität Padua getroffen.

Prof. Barbara de Mori und ihr Team kamen zu dieser Empfehlung, nachdem sie alle relevanten Möglichkeiten und ethischen Dimensionen analysiert sowie mehrere Diskussionen mit den Beteiligten geführt hatten. Zusätzlich evaluierten sie alle möglichen Optionen mit wissenschaftlichen Methoden wie Entscheidungsbäumen und Bateson-Würfel, um das Fachwissen der Beteiligten durch eine systematische, objektive Perspektive zu nutzen.

„Es war eine besondere Herausforderung, die Chancen zur Rettung einer Art gegen das Wohlergehen eines einzelnen Tieres abzuwägen", sagt Prof. Barbara de Mori. „Wir ermittelten die wichtigsten Möglichkeiten und Kombinationen von Entscheidungen, die das Konsortium treffen könnte.

Diese stuften wir dann mit Blick auf die verschiedenen Optionen ein, wie die Vermeidung schwerer oder kleinerer Unfälle, die Möglichkeit, Verfahren zu wiederholen, und die erfolgreiche Entnahme von Eizellen, ergänzt Dr. Pierfrancesco Biasetti, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und Mitglied des Ethik-Teams in Padua.

Es stellte sich heraus, dass einige Szenarien mit hoher Wahrscheinlichkeit die meisten gewünschten Vorgehensweisen erfüllen, während andere eher geringe Chancen haben. Daraus ergab sich, dass eine Fortsetzung der Eizellenentnahme oder andere potenzielle Optionen wie die Ovarektomie (zur Gewinnung von Biomaterial, das für künftige Verfahren im Labor [in-vitro] wertvoll sein könnte) unter den gegebenen Umständen keine ethisch akzeptablen Möglichkeiten sind.

Von Anfang an war es eine zentrale Säule der Arbeit des BioRescue-Projekts und seiner Partner:innen, alle relevanten ethischen Aspekte bei der Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns zu berücksichtigen.

„Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir die Grenzen des Machbaren im Naturschutz ausreizen und dies erfordert auch ein Nachdenken über ethische und moralische Konsequenzen", sagt BioRescue-Projektleiter Prof. Dr. Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW).

„Jedes Verfahren des Programms wird von einer umfassenden ethischen Risikobewertung begleitet. Wir sind überzeugt, dass wir nichts tun sollten, was wir tun könnten, nur weil wir es eben können. Die Entwicklung klarer ethischer Grundsätze auf der Grundlage unseres Wissens, wissenschaftlicher Expertise in der Tierschutzethik und Entscheidungsfindung sowie Aufmerksamkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Diskurs ist eine wesentliche Basis von BioRescue.”

Bei den Überlegungen über die künftige Rolle von Najin war dieser Entscheidungsprozess außerordentlich schwierig, da die Expert:innen sowohl die Perspektive der Population (Schwerpunkt Artenschutz) als auch die Perspektive der einzelnen Tiere (Schwerpunkt Tierschutz) einbeziehen mussten.

„Ein einzelnes Tier aufgrund von Tierschutzbedenken aus einem Schutzprogramm herauszunehmen, ist normalerweise keine Frage, über die man lange nachdenkt", sagen Leibniz-IZW-Cheftierarzt Dr. Frank Göritz und Ol Pejeta-Cheftierarzt Dr. Stephen Ngulu.

„Aber wenn ein einziges Individuum 50 Prozent der Population ausmacht, überdenkt man diese Entscheidung mehrmals, weil sie erhebliche Auswirkungen auf die Aussichten des Schutzprogramms haben könnte. Jüngste Ultraschalluntersuchungen haben ergeben, dass Najin mehrere kleine, gutartige Tumore im Gebärmutterhals und der Gebärmutter sowie eine große zystische Struktur von 25 cm Durchmesser im linken Eierstock hat. Diese Befunde könnten erklären, warum die Eizellentnahme bei ihr nicht so erfolgreich war wie bei Fatu. Deshalb sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die wertvollste Rolle für Najin darin besteht, eine Botschafterin für die Erhaltung ihrer Art zu sein und ihr soziales Wissen und Verhalten in absehbarer Zeit an Nachkommen weiterzugeben.”

Da Najin nun nicht mehr für den ersten Pfeiler des BioRescue-Programms, die fortgeschrittenen assistierten Reproduktionstechnologien (advanced assisted reproduction technologies, aART), zur Verfügung steht, wird der zweite Pfeiler noch wichtiger werden. Für die aART werden natürliche Eizellen und Spermien benötigt, die direkt aus weiblichen und männlichen Nashörnern gewonnen wurden, um Embryonen zu erzeugen.

Der zweite Pfeiler der BioRescue-Mission, die stammzellassoziierten Techniken (stem cell associated techniques, SCAT), zielen darauf ab, Geschlechtszellen aus gelagertem Gewebe von Nördlichen Breitmaulnashörnern im Labor zu erzeugen. Beispielsweise könnten Hautzellen von Najin in induzierte pluripotente Stammzellen umgewandelt werden, die dann so umprogrammiert werden könnten, dass sie sich zu neuen Geschlechtszellen (Eizellen oder Spermien) entwickeln.

Diese hochmoderne Technik, die im BioRescue-Konsortium von international führenden Teams der Kyushu-Universität und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) entwickelt wurde, ermöglicht es, die Zahl der für die Embryonenproduktion verfügbaren Geschlechtszellen erheblich zu steigern.

Dies kann ein wesentlicher Erfolgsfaktor sein. Darüber hinaus gewinnt der genetische Vorrat des assistierten Fortpflanzungsprogramms enorm an Diversität. Zwar sind die stammzellassoziierten Techniken noch am Anfang - was die Nashornreproduktion betrifft - jedoch stärken die vom MDC und der Kyushu-Universität erzielten Fortschritte die Hoffnung, dass in den kommenden Jahren Nördliche Breitmaulnashorn-Embryonen aus im Labor entwickelten Geschlechtszellen erzeugt werden könnten.

„Bei der ethischen Risikobeurteilung wurde der beste wissenschaftliche Ansatz angewandt, um das Wohlergehen von Najin angesichts ihres fortgeschrittenen Alters und dem pathologischen Zustand ihrer Gebärmutter zu gewährleisten", sagt Dr. Patrick Omondi, Direktor des Wildlife Research and Training Institute (Kenia). „Wir freuen uns, dass wir an der Beurteilung mitgewirkt haben. Diese bekräftigt die kooperative und innovative Herangehensweise des BioRescue-Konsortiums zur Rettung der Nördlichen Breitmaulnashörner.“

Der Wildtierschutz war in den letzten Jahrzehnten mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert. BioRescue hat Technologien entwickelt, die es Experten ermöglichen, einige dieser Herausforderungen zu bewältigen.

Die kenianische Regierung hat mit verschiedenen Partner:innen zusammengearbeitet, um den Schutz von Wildtieren durch technologische Fortschritte zu fördern. Zwar ist das Nördliche Breitmaulnashorn nicht ursprünglich heimisch in Kenia, hat jedoch eine Heimat in dem Land gefunden.

„Die Regierung hat sich im Rahmen des Ministeriums für Tourismus und Wildtiere verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Wildtiere in Kenia und weltweit für heutige und künftige Generationen erhalten bleiben und geschützt werden.

Besonders im Fokus steht dabei, sicherzustellen, dass gefährdete Arten nicht vom Aussterben bedroht sind. Da Najin aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters keine lebensfähigen Eizellen produziert hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Schicksal zu akzeptieren, sie aus dem ART-Programm herauszunehmen. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass sie noch lange genug leben wird, um durch die Nachkommen ihrer Tochter Fatu einen positiven Einfluss auf die nächsten Nashorn-Generationen zu haben", so Hon. Najib Balala, Kabinettssekretär im Ministerium für Tourismus und Wildtiere in Kenia.

In Anbetracht der ständig wachsenden Herausforderungen, denen der Nashornschutz gegenübersteht, war die Entscheidung, Najin auf Anraten der Experten aus dem ART-Programm zu nehmen, für den Kenya Wildlife Service sehr schwierig:

„Wir sind jedoch davon überzeugt, dass der Kenya Wildlife Service als staatliche Behörde, die mit der Erhaltung und dem Management der Wildtiere im Land beauftragt ist, wesentlich zu den Bemühungen beigetragen hat, das Nördliche Breitmaulnashorn vor dem Aussterben zu schützen. Wir sind auch davon überzeugt, dass das Ausscheiden von Najin, obwohl es eine schwierige Entscheidung ist, die einzig richtige Option ist. Wir arbeiten mit technischen Expert:innen vor Ort und auf internationaler Ebene zusammen, um die Möglichkeiten zu erkunden, die sich durch neuartige Technologien der assistierten Reproduktion ergeben, um die Art vor dem Aussterben zu bewahren", sagt Brigadier (Rtd.) John Waweru, Generaldirektor, Kenya Wildlife Service.

www.biorescue.org


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